Zu Ernst Schwartz und seinem Tode:
Aus Hans Litten - Anwalt gegen Hitler. Eine Biographie. Von Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich, Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen, Wallstein Verlag. 2022.
"Das Elend in der Kolonie Felseneck war schon vor dem Überfall grauenhaft. Jetzt, da über zwanzig der Überfallenen in Haft sitzen, ist es unbeschreiblich. Den Familien der Eingesperrten ist mit sympathievollem Bedauern nicht genützt. Sie brauchen Lebensmittel, Kleidung, Geld, praktische Nächstenhilfe ..." Mit diesen Worten warb Erich Mühsam im Februar 1932 für die "praktische Solidarität der Künstler" mit den Bewohnern der Laubenkolonie Felseneck in Reinickendorf. Hier hatten sich seit der Weltwirtschaftskrise Erwerbslose und Arbeiterfamilien billigen Wohnraum geschaffen - man machte die Lauben mit den einfachsten Mitteln winterfest und baute zur Selbstversorgung Obst und Gemüse an. Weit entfernt von jeder Sozialromantik war Felseneck zugleich eine linke Hochburg und stand daher im Visier der SA. Nach einigen kleineren Zusammenstößen zwischen SA-Leuten und "linksradikalen Elementen", wie es in der späteren Anklageschrift hieß, kam es in der Nacht vom 18. zum 19. Januar 1932 zu jenem Überfall verschiedener SA-Stürme, dessen Folgen im letzten großen politischen Prozess des Jahres 1932 verhandelt wurden. Nach einem "Sturmbannabend" in Waidmannslust bei Hermsdorf begaben sich 150 SA-Männer unter Führung des Sturmführers Werner Schulze und mit Begleitschutz von sechs Polizisten - gegen befürchtete kommunistische Überfälle - auf den "Heimweg" nach Reinickendorf. Später sollte herauskommen, dass nur sechs dieser SA-Männer in Reinickendorf, die anderen in weiter nördlich gelegenen Stadtbezirken wohnten. Auch wählte der SA-Führer einen Umweg, der an der Kolonie Felseneck vorbeiführte, wo nach ersten Steinwürfen aus dem Zug auf die Laube eines Mitglied des Kampfbunds gegen den Faschismus die Ereignisse eskalierten. Die im Pflanzerverein Felsenecke organisierten Bewohner hatten seit einiger Zeit eine "Brandwache" eingerichtet, die beim Herannahen des SA-Zugs Alarm schlug. Was dann passierte, blieb zunächst im Dunkeln. Es wurde geprügelt, es fielen Schüsse, und es kam zu einem Handgemenge zwischen SA-Leuten und einer Gruppe von Kampfbund-Mitgliedern, die den Kolonisten zu Hilfe gekommen waren. Am Ende blieben mehrere Verletzte und zwei Tote zurück: der Kolonist Fritz Klemke, nach Presseberichten erst seit einigen Tagen Mitglied der KPD, war niedergeschlagen und erschossen worden, der SA-Mann und Kunstmaler Ernst Schwartz starb im Krankenhaus an den Folgen von Messerstichen. Die begleitenden Polizisten waren offenbar nicht in der Lage oder nicht willens gewesen, den Überfall zu verhindern. Erst eine Stunde später traf ein Polizeikommando ein, das fast 60 Beteiligte aus beiden Lagern in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz einlieferte.
Die "Nächtliche Schlacht in der Kolonie Felseneck" (BVZ) oder, wie die Welt am Abend es nannte, die "Blutige Nazi-Expedition gegen Laubenkolonie in Berlin N" war am nächsten Tag der Aufmacher vieler Berliner Zeitungen. Die kommunistische Presse vermutete, wie schon in anderen Fällen, einen gezielten Mord, während der Konflikt gleichzietig dadurch an Dramatik gewann, dass Überläufer von rechts nach links und umgekehrt beteiligt waren: So war z.B. der SA-Mann Fritz Dorst ein früheres KPD-Mitglied, das zusammen mit einem seiner Brüder in die NSDAP gegangen war, während ein weiterer Bruder immer noch Kommunist war und die Mutter in der Kolonie Felseneck lebte.
Am Tag nach dem Überfall wurde in der Laubenkolonie eine umfangreiche Razzia durchgeführt, es folgten weitere Verhaftungen und Voruntersuchungen, in deren Verlauf, ebenso wie in dem im April 1932 eröffneten Hauptverfahren, sich das unterschiedliche Verhalten von Staatsanwaltschaft und Gericht gegenüber den mutmaßlich Beteiligten von links und rechts geradezu exemplarisch vergleichen ließ.
Mit dem 27-jährigen Lagerarbeiter Willi Adam, wohnhaft im Mittelweg der Gartenkolonie, Laube 48, wurde am 22. Januar derjenige verhaftet, unter dessen Namen der Prozess wenige Monate später vor dem Landgericht begann, als "Strafsache gegen Adam und Genossen" - zu denen pikanterweise auch die angeklagten Nationalsozialisten zählten. Adam räumte schon in seiner ersten Vernehmung ein, eine Pistole zu besitzen und geschossen zu haben. Die Waffe wurde nach seinen Hinweisen auf dem Laubengrundstück gefunden. Zwei Tage später eröffnete die Staatsanwaltschaft die Voruntersuchung gegen dreißig mutmaßlich beteiligte Personen. Zur allgemeinen Überraschung befanden sich unter ihnen nur elf SA-Männer gegenüber 17 Felseneck-Kolonisten und zwei Kampfbund-Mitgliedern. Große Empörung löste in der kommunistischen Presse die Nachricht aus, dass auch gegen die Kolonisten Anni König wegen Schlagens der Alarmglocke ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags eingeleitet wurde. Auf einer Erwerbslosenversammlung in Niederschönhausen war es am Tag vor der Verhaftung Adams zu einer Saalschlacht zwischen Kommunisten und SA-Leuten gekommen, die die Rote Fahne so beschrieb: "[Da] sprang plötzlich der Organisator des Mordüberfalls auf die Kolonie Felseneck, der Sturmbannführer Schulz[e] auf einen Tisch und brüllte in den Saal: "Denkt an Horst Wessel!" und riss seinen Sturmriemen unter das Kinn. Das war das Signal zum Losschlagen." Dass der SA-Führer Werner Schulze nicht nur wegen dieser Attacke nicht belangt wurde, sondern sich nach der Felseneck-Schlägerei überhaupt noch in Freiheit befand, konnte man getrost für ein kleines Wunder halten; immerhin hatte die amtliche Darstellung zumindest die "politische Schuld" an dem Konflikt bereits den Nationalsozialisten zugesprochen. Schulze, der sich später gerne auch offiziell Schulze-Felsenecke nannte, wurde 1933 als Führer der SA-Standarte 208 in das neu errichtete KZ Oranienburg kommandiert und konnte als Leiter des "Verbandes Bewachungsunternehmen in der Fachgruppe Handel" Karriere machen. In jenen aufgeregten Tagen und Wochen des Felseneck-Prozesses ermöglichte ihm das Gericht, durch solche Appelle und Saalschlachten mit dem politischen Gegner weiter zur Aufheizung der politischen Stimmung beizutragen. Knapp eine Woche nach dem Überfall auf Felseneck wurde in Moabit der Hitlerjunge Herbert Norkus erstochen, später Vorbild für Buch und Film vom "Hitlerjungen Quex" - ob es ein Racheakt war, wie vielfach behauptet, blieb jedoch unklar. An der Beisetzung Fritz Klemkes am 24. Januar beim Krematorium Gerichtsstraße nahmen Tausende teil, und bei der "Gedächtnisfeier für die Opfer des Nazisturms 33" am 1. Februar 1932 im Charlottenburger "Türkischen Zelt" erinnerte Hans Litten an die jüngsten Ereignisse in Reinickendorf. Wieder ist uns seine Rede in der Mitschrift eines Polizisten - diesmal des Polizeihauptmanns Rettelsky - überliefert: "Er [Litten] verstieg sich dabei zu der Behauptung: Der Staatsanwalt hat sich die Taktik ausgedacht, jeden KPD-Zeugen innerhalb 24 Stunden zu einem Angeschuldigten zu machen. Wegen dieser Äußerung wurde der Redner von mir verwarnt, wobei die Versammlung ziemlich ruhig blieb." Während die Nationalsozialisten ihrerseits im getöteten SA-Mann Schwartz einen neuen Märtyrer der "Bewegung" feiern konnten, konzentrierten sich die Ermittlungen der Kriminalpolizei zunehmend auf die Felseneck-Siedler und Kampfbündler."