Sonntag, 25. Mai 2025

Der Schreibunterricht in der Charlottenburger Kunstgewerbeschule
Von Paul Westheim

Heinrich Wieynk, der Kalligraph, der mit ein paar Drucktypen - so weit das überhaupt möglich ist - sich eine Popularität erschrieben hat, leitet seit Jahresfrist etwa den Schreibunterricht der Charlottenburger Kunstgewerbe- und Handwerkerschule. Ein gewiegter Praktiker in allen Schriftdingen, braucht Wieynk mit seinen Schülern nicht die Umwege zu machen, die andere - vielleicht aber erst durch die von der Regierung eingerichteten Schreibkurse in die Geheimnisse der Kalligraphie eingeweihten Kollegen - sich nicht ersparen können. Die große Erfahrung, die er als Spezialist mitbringt, sichert ihm einen Vorsprung, der sich an den Schülerleistungen zeigen muß.
In der Tat, wenn man Schülerarbeiten von verschiedenen Kunstgewerbeschulen aus dem gleichen Semester zusammenhält mit den Blättern, die da aus Charlottenburg kommen, so gibt es ein gelindes Erstaunen. Es ist merkwürdig, wie bei diesem Wieynk sich plötzlich eine solche Zahl kalligraphischer Talente einstellen, wie in Jungfrauen, die man sonst und früher mit Vorliebe kunstgewerblich dilettieren sah, ein richtiger Handwerkerinstinkt für die Künste der Federn und der Schreibstifte erwacht. Oder sollte es an der Art des Lehrens liegen, der die Instinkte zu wecken und zu richten versteht?
Photomechanische Reproduktionen der Schulstubenarbeit bieten immer ein bißchen Fälschung. Es ist eben unmöglich, das Bewegliche eines Lehrgangs in einer kleinen Schaubilderauslese festzulegen. Man ist immer versucht, die Leistungen der Musterschüler voranzustellen und damit aus einer Durchschnitts- eine Musterklasse zu machen. Wieynk hat auch ein paar solcher Musterschüler oder -schülerinnen; aber es ist bei der Auswahl unserer Beispiele Wert gelegt auf eine Veranschaulichung des hier herrschenden Gesamt- und Durchschnittsniveaus.
Ein sehr anständiges und tüchtiges Niveau, wie jeder Betrachter der beigegebenen Proben bestätigen wird. Die Versuche, aus dem Schreibwerkzeug heraus auch den ornamentalen Rahmen zu gestalten, wie sie auf dem Ödipus-Umschlag und der Bernström-Adresse in ersten Ansätzen zu sehen sind, sind aller Unterstützung wert. Noch sympathischer ist die Vielseitigkeit, die sich nicht auf ein paar Schrifttypen beschränkt. Wieynk hat bekanntlich seine stärksten Erfolge mit der Kursiv errungen, mit einem eleganten und flüssigen Duktus, wie er den Kupferstechern des Ancien régime im Handgelenk gesessen. Daß er seine Schüler davon profitieren läßt, ist selbstverständlich. Das entzückende Blatt mit der Geschichte des kleinen Assessors von Ristow ist eine Leistung, die man sich gern gefallen lassen mag; daneben aber zeigt gerade unsere Zusammenstellung, mit welchem Eifer und mit welchem Erfolg alle Schriftarten von der einfachen Antiqua bis zu den schwierigsten gotischen Zügen da betrieben werden. Es ist Einheitlichkeit, Rhythmus, Form- und Flächengefühl in diesen Schreibereien, und wer Gelegenheit hat, einmal diese Charlottenburger Schreibhefte durchzublättern, wird dahinter kommen, daß alles organisch und folgerichtig verarbeitet worden ist. Damit andererseits diese Schreiberei nicht zu einem puren Sport ausarte, hat Wieynk die Einrichtung einer kleinen Druckerei Durchzusetzen gewußt, die den Schülern Geschriebenes und Gesetztes, Schwarz-Weißes und Farbiges in praktisch greifbare Wirklichkeit umzusetzen ermöglicht.
Aus: Kunstgewerbeblatt. Neue Folge. 23. Jg. 1912. S. 116f.