Montag, 9. Dezember 2024

Bilderhandschriften

Alfred Kuhn

Der Verlag August Kuhn, mit dem Unterzeichneter übrigens weder verwandt noch verschwägert ist, hat sich ein bedeutendes Verdienst um die Wiedererweckung der mittelalterlichen Bilderhandschrift erworben. Die illuminierte Handschrift des frühen Mittelalters ging vom geschriebenen Buchstaben selbst aus. Die Initialen wurden ornamentiert und mit Darstellungen aus dem Text gefüllt, d.h. die Figuren, die in Initialen hineinkomponiert wurden, waren dem Duktus der Schrift angepaßt. In vielen Fällen waren Scriptor und Illuminator identisch. Der Geist des mönchischen Schreibers lebte sich gleichermaßen und in völlig gleicher Richtung in Buchstabe und Ornament aus.

Das späte Mittelalter bricht mit dieser imponierenden Tradition in demselben Augenblick, in dem die Profanisierung des täglichen Lebens beginnt. Als in Paris die Universität sich gleichberechtigt und manchmal gleich mächtig neben die bisher allein herrschende Geistlichkeit stellte, da verlor die Handschriftenillustration die Geschlossenheit ihrer künstlerischen Wirkung. An die Stelle der schreibenden Mönche treten der bürgerliche Schreiber und der bürgerliche Illuminator. Damit beginnt das, was früher höchste Vollendung war, zur fabrikmäßigen Produktion herabzusinken. Der Unternehmer teilt die Arbeit unter seine Scriptoren und Illuminatoren auf. Die Homogenität der Bilderhandschrift ist zerstört. Wohl wurden auch Ende des Mittelalters bis ins 15. Jahrhundert hinein noch Prachthandschriften von hervorragender Qualität angefertigt, aber es sind doch nur wenige einzelne für hohe Herschaften bestimmte von der Hand bedeutender Künstler, deren Namen uns zumeist erhalten sind. Die anonyme Bilderhandschrift ist verloren.

Als eine reine Luxusproduktion von großer Kostspieligkeit ist die Bilderhandschrift nach Einführung des Buchdrucks ausgestorben.

Es würde ein höchst überflüssiges Beginnen sein, wollte man eine Kunst wiedererwecken, deren Vorbedingungen nicht mehr vorhanden sind. August Kuhn hat dies sehr richtig erkannt und ist bei seinem Unternehmen von einem ganz anderen Gesichtspunkt ausgegangen. Ging das Mittelalter von der Schrift aus als dem Primären, so geht August Kuhn vom gemalten Bild aus. Seine Absicht ist es, die Homogenität von Illustration und Schrift wiederherzustellen und zwar in dem Maße, daß sich der Geist des Bildes, seine spezielle Farbigkeit, sein kompositioneller Aufbau, kurzum die ganze innere Bewegung, die auf ihm durch den Künstler zum Vortrag kommt, auch in der Schrift ausspreche, so daß in dem aufgeschlagenen Buch die linke und die rechte Seite, das gemalte und das geschriebene Blatt einen einzigen zusammenklingenden Eindruck bilden, der den Sinn des betreffenden Textes ausdrückt.

Es ist klar, daß bei einer Wiedererweckung der Bilderhandschrift von der Schrift nicht ausgegangen werden konnte, zumal im Laufe der Jahrhunderte die künstlerische Potenz des Schreibens immer mehr gesunken ist, die des Malens sich gehoben hat. Der mittelalterliche Mönch fühlte sich keineswegs als Künstler, der Künstler von heute sieht in sich die schöpferische Persönlichkeit. Es wäre also unmöglich gewesen, einen Künstler zu finden, der sich bei der Anfertigung der Illustrationen dem Geiste der Schrift angepaßt hätte. Bejaht man also überhaupt die Anfertigung von Bilderhandschriften in unseren Tagen, so muß man auch bei ihnen das Primat des Bildes bejahen, wie es August Kuhn verlangt.

Mit großem und besonders zu lobenden Idealismus ist August Kuhn an die von ihm unternommene große Aufgabe herangegangen. Vier Bilderhandschriften sind bis jetzt in seinem Verlag erschienen: Die Enthauptung Johannis des Täufers mit 5 Deckfarbengemälden von Willy Jäckel, Schrift von Grete Ratschitzky, letztere ganz ein tastender Versuch, durch reine Ornamentierung die Verschmelzung von Textseite und Bild herbeizuführen, während die Schrift ruhig bleibt. Dann: der barmherzige Samariter mit 5 Deckfarbengemälden von Erich Waske, Schrift von Rudolf Koch und die vierzehnblättrige Mattäus-Passion, gleichfalls von Willy Jäckel, Schrift von Rudolf Koch. In beiden letzteren ist die Kuhnsche Absicht weitgehendst verwirklicht. Ganz im Geiste der prachtvollen starkfarbigen von unzweifelhafter Monumentalität erfüllten Bildern des Malers ist der Text bewegt. Der Charakter der Schrift wechselt auf jedem Blatt, flammt erregt, ist stolz, beruhigt, je nachdem es der Sinn zu verlangen scheint.

Vor geraumer Zeit hat August Kuhn den Gedanken der Illustration der gesamten Bibel auch noch auf eine andere Weise zu verwirklichen begonnen, nämlich durch die Herausgabe von Steinzeichnungspublikationen. Den Anfang machte die schon recht bekannt gewordene sechzehnblättrige Matthäus-Passion von Willy Jäckel, in der dieser wesentliche Künstler zum erstenmal seinen tiefen Christustypus geschaffen hat. Neuerdings hat der Verlag die sechzehn Steinzeichnungen Erich Waskes zur Geschichte des Simson herausgebracht.

Aus: Feuer : Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur – 2.1920/1921